Krankheit | Gesundheit

Frage:

Ist Gesundsein eine notwendige Bedingung für ein engagiertes, langes Leben?

Erste Antwort:

Eher nein. Viele Ältere, die uns Auskunft gaben, sind immer wieder in ärztlicher Behandlung, phasenweise lebensbedrohlich krank oder im Alltag durch chronische Leiden deutlich beeinträchtigt. Bei den besonders engagierten Männern und Frauen des Projektes «neues Alter» fällt allerdings auf, dass sie ihren Krankheiten keine zentrale Bedeutung für ihr Leben zumessen.

Rahmenbedingungen der beforschten Lebenswege:

  • Die medizinische Versorgung expandiert mächtig; diagnostische und therapeutische Möglichkeiten erweitern sich von Jahr zu Jahr, viele Leiden werden behandelbar.
  • Was früher als Schicksal erlebt wurde, definiert man mittlerweile als lösbares Problem der Medizin (z.B. Menopause, Kinderlosigkeit).
  • Die Ersatzteilchirurgie ist sehr erfolgreich (z.B. Augenlinsen, Gelenke) und erhöht Bewegungsfreiheit und Lebensqualität speziell reiferer Menschen beträchtlich.
  • Die Aufmerksamkeit für den menschlichen Körper und seine Pflege gewannen in den letzten 50 Jahren einen sehr hohen Stellenwert: Fitness, Ernährung, Gewichtskontrolle usw. sind Teil des gängigen Selbstmanagements.

Performancekünstlerin Marina Abramovic, geboren 30. Nov. 1946:

«Ich sehe es ja an den andern in meinem Alter: Wenn man aufhört zu arbeiten, hört die Lebenskraft auf zu fliessen, die Neugier hört auf. Meine Generation beschwert sich die ganze Zeit, alle haben irgendwelche Krankheiten. Deswegen ist es so wichtig, bis zum Schluss zu arbeiten.»

Krankheitsmuster ohne Bremswirkung auf intensives berufliches oder ehrenamtliches Engagement:

Fragilität im Kindesalter

  • Als kränkliche Kinder waren der Ingenieur wie auch der Bergbauer über Jahre hinweg auf besondere Fürsorge, Ernährung oder Therapien angewiesen. Für den Bergler normalisierte sich die Situation im Erwachsenenalter, er füllte sein berufliches Portfolio mit verschiedenen anstrengenden Aufgaben und ist auch Mitte 70 körperlich und geistig anspruchsvoll beschäftigt. Der Ingenieur blieb stets fragil und in seiner Leistungsfähigkeit auch im besten Alter etwas eingeschränkt. Über viele Jahre hinweg traute er sich kein volles Arbeitspensum zu. Doch sein nebenamtliches Richteramt behielt er bis 68, seine Berufstätigkeit, reduziert auf Beratung, übte er bis 76 aus. Und auch mit 80 Jahren leistet er mindestens einen Tag pro Woche einen anspruchsvollen ehrenamtlichen Einsatz.

Schwere psychische Krisen

  • Mehrere Interviewte litten im Lauf ihres Lebens an schweren Depressionen und verbrachten zur Heilung längere Zeit in der Klinik. Engagement und damit verbunden intensiver sozialer Austausch – zum Beispiel mit Asylsuchenden in Ausbildung, bei Besuchen von «Illegalen» im Gefängnis oder beim Kochen für alleinlebende Nachbarn – erleben sie selbst als gut funktionierende Methode, um weitere depressive Episoden zu vermeiden.

Lebensbedrohliche Ereignisse

  • Mehrere Befragte waren nach ihrem 60. Geburtstag mit Hirnschlag samt Lähmungen, Hirnblutung, ernsten Herzkrankheiten oder Krebsdiagnosen konfrontiert. Sie schildern die Bewältigung dieser Krisen als herausfordernd, langwierig und zum tiefen Nachdenken zwingend. Und sie beschreiben anhaltende Beeinträchtigungen, die generelle Verlangsamung und kompensatorische Verhaltensveränderungen unvermeidbar nach sich ziehen. Doch sie verloren nie ihre Projekte und Engagements aus den Augen und brannten darauf, die wichtigen Fäden wieder in die eigene Hand zu nehmen.

Starke Einschränkungen durch chronische Krankheit

  • Die kunstgewerblich tätige Frau mit eigenem Ladengeschäft war im Alter von rund 60 mit der Diagnose einer erblich bedingten, schweren degenerativen Muskelkrankheit konfrontiert, die ihre Beweglichkeit vor allem in Händen und Füssen zunehmend beeinträchtigt. Mit rund 70 Jahren übertrug sie deshalb die Pflege ihres Gartens einem Fachmann; in ihrem eigenen Atelier aber ist sie weiterhin jeden Tag anzutreffen. Allerdings bleibt ihr keine andere Wahl, als ihre Arbeitsinstrumente im Einklang mit den schwindenden motorischen Möglichkeiten immer wieder zu wechseln.

Weiterführende Überlegungen:

Die Forschungsergebnisse widersprechen auf den ersten Blick weit verbreiteten Erwartungen, wird Gesundheit doch stereotyp als wesentliche Bedingung für ausserhäusliches Engagement jenseits von 65 genannt. Ein zweiter Blick auf Studien über Heilungsprozesse oder die Nachfrage bei Ärzten bringen rasch auf den Tisch, dass es einen Unterschied machen kann, wenn Personen wichtige Gründe haben, ihre Energien und Fähigkeiten neben der Gesundung auch auf andere Ziele und Aktivitäten auszurichten. Ein Onkologe formuliert es so: «Ich ermutige auch unheilbare Patienten, nicht ihre Krankheit ins Zentrum ihres Daseins zu stellen, sondern ihr eigenes Leben, ihre persönlichen Anliegen und Wünsche, ihre Beziehungen und Unternehmungen weiterhin zu verwirklichen.»

Die Möglichkeit, den Stellenwert einer schweren gesundheitlichen Störung für die Alltagsgestaltung selbst zu definieren, und zu relativieren, setzt nicht nur gelenkte Aufmerksamkeit, sondern auch Einstellungen voraus, die nicht auf Knopfdruck entstehen, aber gelernt werden können. Zweifellos helfen dabei über die Gegenwart und die eigene Existenz hinausweisende Ziele und Tätigkeiten mit grosser Resonanz bei anderen Menschen ausserhalb des Krankheitsgeschehens. Wille, Dringlichkeit und Verbindlichkeit gegenüber Dritten lassen Entscheidungsspielraum für die Zuweisung von mentalem Raum einer Krankheit. Mit Verdrängen oder falschem Heldentum hat das nichts zu tun.

Gleichwohl – das ist nicht zu übersehen – werden früher oder später Grenzen erreicht, die keine andere Wahl lassen, als sich kompromisslos auf das persönliche Befinden zu konzentrieren.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert fünf Dimensionen, die gesunde Langlebigkeit (Healthy Ageing) ausmachen, dazu gehören Aufbau und Pflege sozialer Beziehungen sowie das Leisten von Beiträgen an die Gesellschaft. Langes Engagement in Erwerbsleben oder Freiwilligenarbeit dürfen aus dieser Perspektive als gesundheitsfördernd gelten.

Anschlussfrage:

Wie können Gesundheitsfachleute, Patientenorganisationen, Präventionsexpert:innen und Akteure wie Krankenkassen Männer und Frauen unterstützen, ihren Gesundheitszustand eher als Rahmenbedingung denn als Voraussetzung ihrer Alltagsgestaltung wahrzunehmen?

Februar 2022/ ema

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