Erfahrungsfelder und Lernen weltweit

Fragen:

Arbeitskräfte in der Schweiz haben gute Chancen, in vielfältiger Weise jenseits der Landesgrenzen tätig zu werden. Sie tun dies häufig in jungen Jahren. Machen sie es auch in späteren Lebensetappen? Fördern Auslandbeziehungen sogar berufliche Aktivitäten über die Ruhestandsgrenze hinaus? Kommen lange Tätigkeitsbiografien dank räumlicher Grenzüberschreitungen leichter zustande? Das Projekt gibt ein paar Hinweise.

Erste Erkenntnisse aus dem Projekt:

Auslanderfahrungen sind auch für viele Nachkriegskinder eine wichtige Ressource; sie führen die lange Schweizer Tradition beruflicher Bewährungsproben jenseits der Grenzen, Auswanderung, Auslandstudien und globaler Wirtschaftsaktivitäten weiter. Auch kleinere Firmen sind ausserhalb Europas tätig.

Arbeit im Ausland verbreitert den Schatz an berufsrelevanten Kenntnissen und Erfahrungsfeldern. Heisst: Die Person verfügt über mehr Ressourcen und vielfältigere Kriterien bei der Auswahl ihrer Tätigkeitsschwerpunkte im Lauf der Zeit. Sie kann ihren Lebensweg deshalb besonders stimmig in Richtung besonderer persönlicher Stärken entwickeln. Sie gewinnt – als jemand, der Risiken eingegangen und Anpassungsfähigkeit oder Lernlust bewiesen hat - in den Augen von Arbeit- und Auftraggebenden an Attraktivität, was sich in längerem Verweilen im Erwerb und in Verantwortung niederschlagen kann.   

Rahmenbedingungen der erforschten Lebenswege:

  • Die Schweiz stand schon vor der Industrialisierung in regem internationalem Warenaustausch; die Verflechtung des Industriestandortes und Handelsplatzes hat sich seit dem Ende des Ancien Régime allerdings deutlich verdichtet. Rege Auswanderung hat die Exportaktivitäten grosser wie kleiner Unternehmen bestens unterstützt.  
  • Die Sprachkenntnisse der Bevölkerung sind im internationalen Vergleich respektabel, neben den Landessprachen wird auch Englisch an vielen Schulen unterrichtet und vor Ort sind die Schweizer jeweils rasch bereit, das gängige Idiom zu erlernen.
  • Auslandreisen und die Begegnung mit anderen Kulturen geraten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts für breite Kreise in Griffnähe. Nach 1968 schliessen sich junge Leute auch ausserhalb der städtischen Zentren der Hippiebewegung an, Buddhismus und transzendentale Meditation lösen traditionelle Formen von Spiritualität ab.

Weiterführende Überlegungen:

Die Erkenntnisse aus unserer Forschung spiegeln die intensive internationale Verflechtung der Schweizer Wirtschaft mit grosser Deutlichkeit; die Hälfte der Auskunftspersonen haben in ihrer Laufbahn längere Zeit - mehr als ein Jahr - im Ausland, auch ausserhalb Europas, gearbeitet. Ausbildungsbasis dafür waren sowohl duale Berufslehren als auch wissenschaftliche Studien. Die Männer waren deutlich häufiger im Auslandeinsatz als die Frauen.

Im Gleichschritt mit den Arbeitseinsätzen entwickelten sich Aus- und Weiterbildungsaktivitäten. Praktika, Auslandsemester, längere Weiterbildungsetappen wurden in den USA oder – längst vor der Personenfreizügigkeit – in den europäischen Nachbarländern oder in England absolviert. Und diese Auslandorientierung bricht auch in den 7. und 8. Lebensdekaden nicht ab; sie spiegelt sich auch in binationalen Eheschliessungen und in der Tatsache, dass Kinder dauerhaft im Ausland leben.

Zuwanderung half der Schweiz nach dem 2.Weltkrieg, Wachstum zu realisieren; in den Lebenswegen der Befragten beobachten wir gängige Migration, motiviert durch Liebe oder Arbeit und Einwanderung als Folge dramatischer politischer Krisen wie beispielsweise dem Aufstand der tibetischen Bevölkerung gegen die chinesische Herrschaft oder dem Aufstand der Tschechen 1968/69 gegen die Sowjetunion. 

Ausgewanderte mit anhaltendem Heimatbezug, die sogenannte 5. Schweiz, macht derzeit rund einen Zehntel der Gesamtbevölkerung aus. Im Projekt-Sample gibt es niemanden, der aktuell im Ausland lebt; die längste Lebensspanne in der Ferne - 20 Jahre - verbrachte eine Frau als Projektleiterin und Projektcoach in Vietnam.

Aus- und Weiterbildung:

Die USA sind und waren eine attraktive und «naheliegende» Lernumgebung; lange Zeit machte der ironische Zusatztitel i.A.g. die Runde: in Amerika gewesen. Auslandsemester und spezielle Lehrgänge in europäischen Ländern wurden mit staatlichen und privaten Stipendien gefördert. 

Konkrete Beispiele:

  • Der Dachdecker absolviert in den Vereinigten Staaten eine Architekturausbildung.
  • Die experimentelle Physikerin studiert und forscht während mehrerer Semester in New York und ist bis heute mit wichtigen internationalen Institutionen der Weltraumforschung verbunden.
  • Die Juristin wanderte zwar der Liebe wegen nach New York aus, kommt aber mit einem zusätzlichen Universitätsdiplom (und ohne Partner) an schweizerische Gerichte zurück.
  • Der Hotelier verpflichtet sich während seinen Lern- und Wanderjahren für ganze Saisons in guten Häusern, zwecks Inspiration und um sich mit den Ansprüchen künftiger Überseegäste vertraut zu machen.
  • Der Wirtschaftsgeograf macht im Rahmen seiner Doktorarbeit Feldforschung in Indien und ist heute Mitglied von Beratungsgremien in Europa und Übersee.
  • Nach Arbeitsjahren in Gewerbe und Industrie wird der junge Künstler für ein Stipendium in Warschau ausgewählt; in einem polnischen Bildhauercamp lernt er seine Frau kennen. Mit stetig wachsender Reputation seiner Performances wächst seine Präsenz in wichtigen Museen und Galerien weltweit.

Erwerbsarbeit:

Zu beobachten sind verschiedene Formen: Erstens bricht man zuhause die Zelte ab, heuert im Ausland bei einem einheimischen Unternehmen an, zieht um und übernimmt berufliche Aufgaben. Zweitens wird man als Mitarbeiter:in einer schweizerischen Firma ins Ausland «verlegt», zum Beispiel für die Inbetriebnahme eines Kraftwerks oder einer grossen Industrieanlage. Drittens vertritt man für spezifische Aufgaben, zum Beispiel Produktevermarktung, eine Schweizer Firma regelmässig in fremden Ländern.

Konkrete Beispiele:

  • Der Textilingenieur lernt u.a. in Deutschland, managt Fabriken in Frankreich und der Schweiz, erlebt die Verlagerung der Seidenproduktion in Billiglohnländer und landet spät im Leben im internationalen Kunsthandel.
  • Der Mechaniker findet in Australien mit seinem Lehrabschluss leicht verschiedene Stellen in der Industrie, arbeitet jahrzehntelang im Kader einer Schweizer Firma, was mit zahllosen Europareisen verbunden ist und träumt im Ruhestandsalter u.a. davon, eine Ferienresidenz im Süden zu managen.
  • Die Architektin interessiert sich fürs Bauen in fernen Kulturräumen, erweitert gezielt ihr Kompetenzspektrum und arbeitet an konkreten Wohnbauprojekten in Indien mit.
  • Als Marketingverantwortliche im Familienbetrieb für Luxusrauchwaren nimmt sie das Geschäft mit Grosskunden selbst an die Hand und bewegt sich erfolgreich auf allen Kontinenten, zum Beispiel in den Golfstaaten.
  • Der ausgebildete Buchdrucker verlässt die Innerschweizer Arbeitsstelle, um sein Métier in Norwegen auszuüben, wo er seinen Langlaufsport besonders intensiv und professionell unterstützt betreiben kann.
  • Der ETH-Ingenieur wechselt nach Einsätzen in Europa den Kontinent und entdeckt, beziehungsweise erschliesst sich neue Aktivitätsfelder am Rand seiner Kernkompetenz in Grossbetrieben Kaliforniens.
  • Die immigrierte Tibeterin geniesst elementare Schulbildung in der Schweiz, bewährt sich in einfachen Berufsaufgaben, hilft parallel dazu aber über Jahrzehnte hinweg beim Aufbau und im Betrieb von Klöstern in Indien, in der tibetischen Diaspora.
  • Der Betriebswirt startet mit Projektarbeit und stellt sich in jungen Jahren als Delegierter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz in verschiedenen Krisengebieten auf die Probe. Er wird Mittelschullehrer und Altersheimleiter, bleibt aber jahrzehntelang, bis ins Rentenalter, weltweit Wahlbeobachter für die UNO.
  • Das künstlerische Multitalent ohne spezifische Ausbildung engagiert sich verbindlich im Aufbau von Kinderläden in der Bundesrepublik nach 1968, arbeitet als internationaler Fernfahrer und führt als Inhaber Fotogeschäfte in Deutschland.
  • Der Mechaniker und Elektriker leitet im Auftrag eines Schweizer Multis monatelang Montageteams für wichtige Industrieanlagen auf drei Kontinenten und verbindet dies mit Expeditionen in die wichtigsten Hochgebirgsregionen.

Steckbriefe:

Zweitwohnsitz im Ausland noch Mitte 80

  • Ihre Grundausbildung als Pflegefachfrau hat die Diakonisse mit qualifizierenden Weiterbildungen aufgestockt; nach verschiedenen Berufseinsätzen hierzulande wechselt sie nach Deutschland, entfernt sich vom direkten Patientenkontakt und übernimmt zentrale Führungsfunktionen in konfessionellen Krankenhäusern. In ihren Fünfzigern bricht sie diese Tätigkeit ab, wird vorzeitig pensioniert, packt aber die Chance für zusätzliche intensive Studienjahre in Deutschland. Private Erfahrungen binden sie ans Thema Demenz, das sie sich fortan in allen Dimensionen erschliesst. In dieser Beschäftigung entwickelt sie einen eindrücklichen Kreativitätsschub als Lehrerin und Vermittlerin. Sie hält Vorträge, leitet Kurse mit viel Resonanz, schreibt fünf Bücher und offeriert Weiterbildung auch übers Internet. Deutschland verleiht ihr das Bundesverdienstkreuz. Auch im Alter von Mitte 80 pendelt sie zwischen zwei Wohnorten, einem in Deutschland und einem auf dem Zollikerberg bei Zürich.

Weiterhin wichtige Schulungsaufgaben in Ägypten

  • Der spätere Arzt kommt – als Sohn eines Baumwoll-Handelskaufmanns – im ägyptischen Nildelta zur Welt und übersiedelt erst fürs Gymnasium in die Schweiz. Das Medizinstudium absolviert er mehrheitlich in der Heimat seiner Eltern; um sich weiter als Forscher zu qualifizieren und Professor zu werden, arbeitet er auch in Kanada. Den wichtigsten Abschnitt seiner Berufslaufbahn verbringt er als akademischer Lehrer und Chefarzt in einem Zürcher Regionalspital. Mit der Pensionierung ist die Karriere keineswegs zu Ende, immer wieder lässt er sich interimistisch über längere Zeit hinweg in Klinikleitungen oder Hausarztpraxen verpflichten. Mit seinem Geburtsland bleibt er eng verbunden; als Mitarbeiter, Berater und Weiterbildner der einheimischen Ärzte ist er auch mit 80 noch intensiv in einem koptischen Spital in Mittelägypten, nahe bei Luxor, engagiert.

Familienunternehmer hierzulande und in Osteuropa

  • Der Spross einer alteingesessenen Innerschweizer Unternehmerfamilie mit Besitz auch in Italien macht seine Matura im Internat und studiert anschliessend an der Hochschule St. Gallen Betriebswirtschaft. Nach kurzen Lernjahren in einem global tätigen Nahrungsmittelkonzern und einem halben Jahr USA wird er in 4. Generation im international ausgerichteten Familienunternehmen gebraucht. In der Spirituosenbranche verlieren kleine Player rasch an Boden, er navigiert geschickt mit Kooperationen, verkauft im richtigen Moment und wird mit der Firma Teil eines grossen deutschen Konzerns, in dem er als Verwaltungsrat anschliessend nebenamtlich in der Führung mitwirkt. Als erfahrener Unternehmer übernimmt er Mandate bei der privatwirtschaftlich orientierten Entwicklungsorganisation Swisscontact in Südamerika, Indien, Bangladesh und Osteuropa und berät Firmen beim Aufbau, in Krisen oder der weiteren Entwicklung. Zwei Familienunternehmen in Bulgarien haben ihn mittlerweile sozusagen adoptiert; bis heute spielt er da tragende Rollen und unterstützt die Eigentümer dabei, Vogelfutter oder WC-Papier erfolgreich zu produzieren und zu vermarkten.

Tolle Sozialprojekte fördern, wo Tochterfirmen arbeiten

  • Als Sohn eines Kaminfegers mit eigenem Betrieb in 4. Generation wächst er in einer sehr grossen Familie nahe der Landesgrenze auf und absolviert eine kaufmännische Lehre. Sein Interesse an Sprachen führte ihn nach Florenz, Paris und London und aufgrund seiner Sprach- und Kulturkenntnisse engagieren ihn Maschinenbauer seiner Herkunftsregion als Firmenvertreter und Verkäufer im europäischen Ausland. Er geht eine binationale Ehe mit einer Irin ein. In seinen Vierzigern nutzt er seine Marktkenntnisse und packt die Chance, selbst Unternehmer zu werden. Sehr rasch finden die innovativen technischen Geräte seiner Firma Anklang in aller Welt; er exportiert Jahr für Jahr mehr und gründet Tochterfirmen. Sein soziales und grünes Engagement motiviert ihn zur Schaffung einer Unternehmensstiftung, mit der er in der Rolle als Stiftungsrat heute noch kreative Projekte in Ländern anstösst und finanziert, in welchen das Unternehmen schwerpunktmässig aktiv ist, zum Beispiel in Thailand.

Anschlussfrage:

Es ist wenig Wissen über Berufswegverläufe verfügbar, umso brennender interessiert, wie genau sich ein Zusammenhang zwischen Breite, bzw. Vielfalt professioneller Erfahrungen, gewähltem Tätigkeitsfeld und längerer Erwerbsbiografie erklären lässt?

August 2022/ ema

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