Theorien und Methoden

Frage:

Wie werden wir die Person, die wir in einem bestimmten Alter sind?

Informationssammlung:

Das Projekt «neuesalter» erforscht Bedingungen, unter welchen lange, engagierte Lebenswege zustande kommen; es nimmt Personen in den Fokus, die über das Pensionsalter hinaus tätig sind und beobachtet abschnittweise deren persönliche Auseinandersetzung (oder die Geschichte dieser Auseinandersetzung) mit Lebensumständen samt ihrem Wandel. In diesen Sequenzen und Bewährungsproben gewinnen die Akteur*innen Ressourcen, das heisst neue Einsichten, Motivationen, Haltungen und Kompetenzen; man darf Lebensläufe als Lerngeschichten sehen. Und das, was sie auf ihrem Lebensweg an Ressourcen gewinnen, hilft ihnen bei der Bewältigung neuer Aufgaben und Probleme; sie entwickeln bevorzugte Muster, um Herausforderungen zu begegnen.

Es geht den Forschenden ums Aufzeigen – und eine Kartierung - der grossen Vielfalt von Möglichkeiten, nicht um statistische Durchschnittsgrössen. Die Forschungsarbeit lässt sich dabei primär von Vorstellungen leiten, die auf den Soziologen Kurt Lewin zurückgehen.

Kurt Lewin, 1890 – 1947, entwickelte zuerst in Deutschland, später in den USA seine Feldtheorie, die sich auf die Gestalttheorie abstützt. Eine systematische Darstellung der Feldtheorie hat er nicht ausformuliert, vielmehr näherte er sich diesem wissenschaftlichen Arbeitsstil schrittweise und im Zusammenhang mit Experimenten und Einzelstudien an. Kurt Lewin hat seine Theorie ausdifferenziert, auch mathematisch abgebildet und Modelle entwickelt, die im Zusammenhang mit dem Projekt «neuesalter» aber keine Rolle spielen.

Literatur: Kurt Lewin. Feldtheorie in den Sozialwissenschaften. Ausgewählte theoretische Schriften. Faksimile der Erstausgabe von 1963. Hans Huber, Bern 2012

Menschen sind nur im Kontext zu verstehen.

Kurt Lewin hat vor allem den Kontextbezug – er selbst spricht vom «Feld» - und die Kontextabhängigkeit menschlichen Handelns betont. Dabei hatte er nicht den Kontext an sich im Visier, der sich ja objektiver Erfassung entzieht, sondern die Bilder und Vorstellungen, die sich die Akteure von ihm jeweils machen. Und diese Vorstellungen (Konstrukte) sind wiederum nicht unabhängig von der eben erwähnten Lerngeschichte: Wie Personen berufliche Erfüllung oder Alter wahrnehmen, ist auch abhängig von den Erfahrungen und Einsichten, die sie in zurückliegenden Jahrzehnten gemacht haben.

Entwicklungsdynamik entsteht im (sozialen) Feld durch Wahrnehmungsveränderungen; diese führen zu verändertem Verhalten. Das Zusammenspiel vielfältiger Kräfte auf Individuen, Gruppen und Organisationen in vertrauten und neuen Kontexten erwirkt frische Einsichten, kreative Handlungsexperimente, erweitert den Schatz verfügbarer Verhaltensmuster und schafft damit letztlich Ressourcen.

Personen wählen zwischen alternativen Möglichkeiten kontextspezifischen Handelns; sie sind Subjekt ihrer Geschichte. Unterschiedliche Personen nehmen jedoch gleiche Ausgangssituationen vielleicht sehr unterschiedlich wahr und reagieren auf sie daher oft verschieden. Dabei nehmen sie Einfluss auf Dynamiken und Kräfteverhältnisse im Kontext. Dieser ist von hoher Komplexität: Er ist funktional gegliedert und verändert sich dynamisch; Akteure schreiben ihm neue Bedeutungen zu, wobei diese Zuschreibungen zum Wandel der Umstände gelegentlich zufällig scheinen.      

Wie haben diese theoretischen Dispositionen den Umgang der Interviewenden und Beobachtenden mit den Erzählungen der Auskunftspersonen beeinflusst?

Die Auskunftspersonen wurden beim Wort genommen: Es gibt keine Biographie an sich jenseits dessen, was man über das Leben zur Sprache bringen kann. Im Interview fokussiert das Gespräch auf Episoden, die im Dialog zu bedeutsamen Elementen der individuellen Lerngeschichten werden. Die Forschenden erschliessen vom Ganzen der Erzählung her (analytisch) Handlungsmuster und ausgewählte Ereignisse der persönlichen Lebenserzählung; dabei reduzieren sie die Komplexität. Sie übernehmen geschilderte «Eigenschaften» von Dingen und Sachverhalten im Bewusstsein, dass es sich um Wirkungen auf die auskunftgebende Person handelt; die «Sache an sich» kann der Mensch ja nicht erkennen.

Protokolliert sind die Erinnerungen, welche im Moment des Interviews – jeweils im eigenen Wohnzimmer – von den Auskunftgebenden aktiviert wurden. Niemand erwartet dabei «Wahrheit»; die gedächtnispsychologische Forschung hat uns gelehrt, dass Erinnerungen laufend weiterentwickelt, verändert und in ein neues Narrativ eingebettet werden. Interviewte Personen, die ihren Lebensweg bereits mehrere Male erzählt haben, also Prominente, fielen denn auch durch besondere Geschliffenheit ihrer Erzählung auf. Die mehrstündigen narrativen Interviews wurden zeitlich strukturiert, vorzugsweise in Lebensdekaden, und fokussierten einerseits auf schulisch/berufliche Veränderungen oder Weichenstellungen, anderseits auf Statuswechsel und Ressourcen im näheren sozialen Kontext (Familie, Freundschaften, Zugehörigkeit zu Institutionen) – beides wiederum bezogen auf gesellschaftliche und geografische Räume und zeitgeschichtliche Einflüsse. Erfasst wurden die integralen biografischen Verläufe und Lerngeschichten, allerdings mit Verdichtung auf die zweite Hälfte des Lebensweges.

Analyse der protokollierten Gespräche

Zu Beginn wurde eine erste Serie der umfangsreichen Interview-Transkripte gesichtet und auf auffällige persönliche Verhaltensmuster und Strategien der Auseinandersetzung mit Statuswechseln hin untersucht. Dabei waren die beiden Interviewer*innen und eine nicht in die Informationssammlung involvierte Sozialwissenschafterin mit gestaltpsychologischer und systemischer Ausbildung miteinander im Gespräch. Zunächst haben sich diese auf Formen theoretischer Abstraktion verständigt, um dem Textmaterial Vergleichbares abzugewinnen. In der nächsten Phase kam eine deutlich höhere Zahl von Protokollen zur Auswertung. Auf solcher Grundlage wurden Möglichkeiten erprobt, die Handlungsmuster zueinander in Beziehung zu setzen, die man den einzelnen Lebenswegen zugeschrieben hatte. Dabei war es hilfreich, die individuellen Wege unter Gesichtspunkten zu gruppieren, welche die Arbeit zunächst angeleitet hatten; mit ihrem Fortgang wurden sie substanziell auf die Probe gestellt.

Geschlecht erwies sich, nicht überraschend, als sehr wichtiger Gesichtspunkt. Unübersehbar waren für die Beantwortung der zentralen Forschungsfrage aber auch Kontextfaktoren wie   

  • Organisationen/Orte der Arbeitserbringung
  • Verfügen über nötige Produktionsmittel
  • Orte und Arten der Entwicklung von Lernressourcen
  • Berufswegstrukturen
  • Familiäre Verhältnisse im Lebenszyklus usw.

Das Vorgehen bewegt sich im Rahmen der Grounded Theory, also der Methodologie für qualitative Studien, welche Anselm L. Strauss und Barney Glaser entwickelt haben, um Daten zu erheben, zu analysieren, zu verknüpfen und schrittweise Theorien mittlerer Reichweite zu entwickeln.

Literatur: Anselm L. Strauss. Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen soziologischen Forschung. Wilhelm Fink, München 1994

Zum Begriff des «Musters»

In der auswertenden Aussenperspektive fielen innerhalb eines erzählten Lebensweges immer wieder gleiche Abfolgen von Verhaltensmustern, also Verhaltensketten auf. Beispielsweise beim Wechsel des Tätigkeitsfeldes oder des Partners. Solche gleichbleibenden Handlungsstrukturen in sich wiederholenden oder ähnlichen Situationen sind mit Auslösebedingungen verknüpft, zum Beispiel

  • Bestimmten Emotionen
  • Menschen (mit wiederum spezifischen Verhaltensketten)
  • Anspruchssituationen (mit bestimmten Merkmalen)
  • Rollen

Personen übertragen eingeübte Handlungsmuster in andere Kontexte, auf neue Rollen und spätere Lebensphasen, wo sie erfolgreich funktionieren oder sich aber als dysfunktional erweisen können.

Sehr aufmerksam haben die auswertenden Personen aber auch Muster aufgespürt, die sich in mehreren Lebensweg-Schilderungen zeigten. Es spricht nichts dagegen, dass sich auch in dieser qualitativen Studie Aussagen über verschiedene strukturelle Bedingungen plausibel begründen lassen. Zum Beispiel über den Umgang mit ernsthaften Erkrankungen.

Einzubetten sind die sehr diversen Lebenswege schliesslich in den Kontext der Zeitgeschichte, die ihnen beispiellose Möglichkeiten für professionelle Entwicklungen, Veränderung der Geschlechterrollen und sozialen Aufstieg öffneten.

März 2023/ ema

Diese Website verwendet nur die notwendigen Cookies, die erforderlich sind, um das Erlebnis optimal zu gestalten. Mehr dazu