Lernwege und die Ressource Kompetenz

Frage:

Wie ist die Wechselbeziehung zwischen langer engagierter Tätigkeit und Lernbiografie? Erwirbt, wer sich formal weiterbildet und sich immer wieder neuen Erfahrungen/Erkenntnissen aussetzt, ein Potential, das sich auch im reiferen Alter produktiv auswirkt?

Erste Antworten:

Wie äufneten die Auskunftgebenden ihren Schatz an Kompetenzen? Klar, sie gingen zur Schule, besuchten Kurse, schlossen gut durchdachte Lernwege oder Studiengänge mit Diplomen oder Zertifikaten ab, bestanden Prüfungen und erwarben Titel. Etliche kamen mit den schulischen Strukturen nur mit Mühe zurecht und wurden autodidaktisch, im Tun lernend, zu Fachleuten. Überraschend ist der sehr bedeutende Stellenwert, den a-didaktisches Lernen einnimmt beim Aufbau überzeugender Kompetenzprofile. Ganz besonders für Frauen, die in verantwortungsvollem Tun Neues lernten und sich ihrer selbst vergewisserten. Die Mehrheit im Sample hat sich immer wieder und bereits früh als Jugendliche in anspruchsvollen Rollen auch ausserhalb des Pflichtpensums verbindlich engagiert.  

Definitionen:

Formelles Lernen

  • Schulen, Studium, Kurse, Workshops, Tagungen u.a.m. gelten als formelle Bildungsangebote; in ihrem Rahmen werden Lernfortschritte überprüft und die pädagogische Qualität evaluiert. Ein Attest, Diplom, Titel oder Abschlusszeugnis bestätigt das Absolvieren des Lehrgangs. Auch formell vereinbartes Mentoring oder Coaching gehören zu dieser Lernkategorie.

Informelles Lernen

  • Doch gelernt wird nicht nur in den ergebnisorientiert geplanten Lektionen; in der Arbeits- und Lebenswelt selber wirken Erlebnisse und Begegnungen auf Haltung, Wissen und persönliches Verhalten, treiben die Entwicklung voran und bereichern den Wissensschatz. Den entsprechenden (zufälligen) Zuwachs an Erkenntnis und Fertigkeiten fassen wir unter dem Begriff informelles Lernen zusammen.

A-didaktisches Lernen

  • Dazu kommt etwas Drittes; wir bezeichnen es als a-didaktisches Lernen. Die Übernahme einer verantwortlichen Funktion über Monate und Jahre hinweg in zivilgesellschaftlichen Organisationen, bei Pfadfindern und Jungwacht, in Chören, Laientheatern oder kirchlichen, bzw. politischen Gremien, im Militär oder im Berufsverband usw. impliziert Lernprozesse, die niemand als solche arrangiert und die man zwar nicht ergebnisorientiert absolviert, die unter dem bilanzierenden Strich nichtsdestoweniger zu viel Erfahrung und einem Kompetenzreservoir führen. Auch persönliche Beziehungen können die Qualität a-didaktischer Lernfelder aufweisen.

Rahmenbedingungen der erforschten Lebenswege:

  • Ab den späten 50er-Jahren setzte für die Schweizer Bevölkerung eine stetige Expansion formaler Bildung ein, das Absolvieren einer Berufslehre oder höherer Schulen wurde anfangs des 21. Jahrhunderts zum verbindlichen Standard, was vor allem weibliche Biografien stark veränderte.
  • Viele Arbeitsfelder (z.B. PR, Kunst, verschiedene Therapien, Informatik) wurden erst in den letzten Jahrzehnten sukzessive professionalisiert. Wenn der Zugang zu solchen Arbeitsfeldern für selbstlernende Talente früher weit offen war, so wurde dieser nun mittels formaler Ausbildungen und Diplome reguliert.
  • Freizeit wurde vor allem als Erholungszeit wahrgenommen, an Werktagen bewegten sich Wenige ausserhalb von Arbeit, Schule und privatem sozialem Raum. Man informierte sich standardisiert mittels Zeitungen und Radio; Fernsehen war erst im Aufbau. Kirchen, Turn- und Musikvereine, Jugendorganisationen wie Pfadfinder, Jungwacht und Rote Falken, Naturfreunde, Chöre, Alpenclub usw. boten Plattformen für gemeinsame Erlebnisse und wurden meist von Freiwilligen gemanagt.

Lernen mittels praktischer Tätigkeit und in Beziehungen:

Wie entwickelten die befragten Personen den Fächer von Kompetenzen, die sie auch mit 70 noch auszeichnen? Formale Bildung spielte selbstverständlich eine wesentliche Rolle; der Arzt, die Professorin, die Pflegfachfrau, die Postbeamtin brauchten ihre Diplome für den Einstieg in konkrete Tätigkeitsfelder.

Doch gibt es auch Schulversager, die mit den gängigen Lernstrukturen auf Kriegsfuss standen, vom Gymnasium verstossen oder in Privatschulen geschubst wurden, um die obligaten Zeugnisse zu erwerben. Und die sich auf eigene Faust Wesentliches beibrachten oder im Ausüben von beruflichen Funktionen, im Tätigsein, im Beobachten oder aktiven Unterstützen Anderer, vielleicht in fernen Ländern, sehr viel Wichtiges lernten. Seit der umfassenden Studie von Hans Peter Dachler und Werner Müller «Führungslandschaft Schweiz» von 1988 verfügen wir über die Einsicht, wie wichtig etwa die Pfadfinderbewegung für die Entwicklung vieler junger Männer und Frauen hin zu gestaltenden Rollen in Wirtschaft und Gesellschaft war und bleibt.

Die Harvardprofessorin Monica C. Higgins hat in Ihrer Studie «Career Imprints» 2005 die Aufmerksamkeit auf förderliche persönliche Beziehungen und das damit verbundene a-didaktische Lernen gelenkt. Manche Paare oder enge Freund*innen teilen nicht nur Haushalt und Freizeit, sie pflegen auch vertieften Austausch über Fachliches und berufliche Themen. Eine Frau, leitend im Sozialwesen tätig und einen spirituellen Weg suchend, verbündet sich mit einer wenig älteren Gleichgesinnten, die mit ihr schwierige und beflügelnde Erfahrungen teilt; beide lernen beim Besprechen von Lösungsmöglichkeiten. Ein Ehepaar, beide Partner mit langjähriger Erfahrung in unterschiedlichen Berufen, entschliesst sich zur Übernahme einer Heimleitung, Mann und Frau in je eigener Rolle. Sie unterstützen einander nicht nur emotional; sie gewinnen jede*r an Kompetenz in der Auseinandersetzung mit dem Wissen und Können des andern. Behinderte oder schwerkranke Kinder können ihre Eltern zu Fachpersonen Betreuung und Integration «weiterbilden».

In der Längsschnittbetrachtung der 50 Lebenswege fällt der hohe Stellenwert a-didaktischen Lernens auf. Die längerfristige Übernahme von Verantwortung in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen, zum Beispiel politischen Vereinigungen oder Organen kann zum Aufbau und zur Entfaltung von Managementkompetenzen führen. Sprachen lernt man in der Rolle eines Kellners, vielleicht ohne Kurs. Fotografieren oder Kabarettstücke kreieren probiert man aus, vergleicht Eigenes mit Vorbildlichem und hört auf Resonanz. Die Gründung und Führung eines Mickey-Mouse-Clubs im Primarschulalter und regelmässige Mitwirkung im Familientheater sind Bausteine für spätere Leitungsaufgaben. Die Unternehmertochter erfindet aufgrund von Beobachtung und Empathie das Marketing für die Produkte ihrer Familienfirma ganz ohne Theorie. Besonders Selbständige und Kleinunternehmer*innen im Sample, darunter viele Frauen, stützen sich im erfolgreichen Arbeitsalltag viel mehr auf a-didaktisch Gelerntes als auf Kursinhalte. Ihre Methoden des Kompetenzerwerbs funktionieren auch im reiferen Alter und lassen sie auch nach 70 nicht am Erfolg zweifeln. Im Vergleich zwischen den 1980er- und den 2010er-Jahren fällt auf, wie viele Tätigkeitsfelder reguliert wurden und wie sich Zugänge für Leute verschlossen, die genau definierte Ausbildungsvoraussetzungen nicht erfüllten. Bereiche wie Publicity, Marketing, IT, Therapien, Coaching, Sozialarbeit, Kunst, Journalismus, Bergführung u.a.m. sind mittels Erfahrungslernen nicht mehr erreichbar und flinke Selbstentwickler*innen, die sich da eingenistet haben, verloren und verlieren ihren Job zugunsten von Absolventen neuer Lehrgänge.

Persönliche Steckbriefe zum Thema:

Immer wieder überzeugend, aber ohne Zeugnisse

  • Schon sein Vater ist ein begabter Tüftler, doch die Eltern landen als Garagisten im Abseits, geografisch und wirtschaftlich, der Sohn kehrt dem Gymnasium ohne Maturitätszeugnis den Rücken und legt den jugendlichen Traumberuf Pfarrer ad acta. Es zieht ihn mit der 1968er-Bewegung zu den Rebellen nach Deutschland, er wird ohne Lehre erfolgreicher Fotograf und Familienmensch mit Engagement im Kinderladen, später Lastwagenfahrer im Fernverkehr, Filmautor (leider ohne grosse Resonanz) und Inhaber von Fotogeschäften, die den technischen Wandel allerdings nicht überleben. Das Fotografieren von Innenarchitektur bringt ihn zum Gestalten von Räumen und zum Schreinern, entsprechende Aufträge finden positive Resonanz. Dabei vernachlässigt der stets politisch sehr wache Zeitgenosse andere künstlerische Ambitionen in keiner Weise: Er tritt als Kabarettist auf, kreiert Animationsfilme fürs Internet und verdient sich gelegentlich ein Zubrot als Kellner.

Prima Kundenecho

  • Sie verkauft heute Antiquitäten und Trödel auf einer Internetplattform und physisch im eigenen Laden und am Flohmarktstand. Und hält sich den Mietzins tief durch Übernahme der Hauswartfunktion. Am Start ins Erwerbsleben steht eine kaufmännische Berufslehre, doch das war nur ein Sprungbrett für den Einstieg in die neu aufblühende Werbebranche. Sie wirkt begeistert in verschiedenen renommierten Agenturen und berühmten Kampagnen (Waschmittel!) mit. Der Bruch geschieht, als sie Mitte 40 erreicht, einerseits, weil sie für die relativ jugendliche Branche nach altem Eisen riecht, anderseits, weil formal ausgebildetes junges Volk sich auf die Stellen bewirbt, die auch sie interessieren. Langes, eifriges Bewerben um einen Job bleibt erfolglos. Schliesslich öffnet ihr die Sammelleidenschaft ihres Ehepartners eine neue Chance: Sie beginnt zu verkaufen, was er in Vitrinen aufbewahrt, übernimmt und verquantet Erbschaften oder Nachlässe, stöbert in Brockenhäusern nach Kuriositäten, poliert sie fachgerecht auf und tritt als erfolgreiche Geschäftsfrau auf.

Immigrantin ohne Schulsack

  • Sie kam mit Hilfe des Roten Kreuzes nach monatelanger Flucht im Zuge einer (im Westen hoch respektierten) Flüchtlingswelle als Kind in die Schweiz und erlebte erst hier, was Schule sein kann. In ihrem fast vormodern funktionierenden Herkunftsland gehörte sie allerdings zur gesellschaftlichen Elite, im Grosshaushalt ihrer Eltern kam sie mit Vielem in Kontakt und beobachtete Mechanismen und Muster, zum Beispiel sammelte sie Erfahrung in der Rechtsprechung, denn ihr Vater war hochrangiger (Laien) Richter. Eine Büro-Anlehre öffnet der jungen Frau verschiedene Jobs als Hilfskraft, während langer Jahre als einfache Angestellte im Wertschriftenarchiv einer Grossbank. Parallel dazu lebt sie im lebendigen Kreis ihrer Ethnie ganz andere, einflussreiche Rollen, unbeeinflusst von schulischen Lorbeeren. Sie legt Talent als Geldbeschafferin für den Bau eines Klosters im Herkunftsland an den Tag und wirkt im Projektmanagement mit. Als Mitorganisatorin von Märkten für Kunsthandwerk und Gastronomie aus der Heimat ist sie Geschäftsfrau. Und für Zugewanderte bewährt sie sich als Integrationsfachperson.

Staunen über das Viele, das gelingt

  • Heute leitet sie in Kooperation mit einer Freundin ein namhaftes – christlich orientiertes – Kurhaus in den Bergen, das unter ihrer Regie auch baulich substanziell erneuert wurde. Aufgewachsen ist sie am Zürichsee, in einer Familie mit solidem Bildungshintergrund, zusammen mit zwei Brüdern. Grosses Hobby der Familie ist die Aufführung wichtiger Geschichten als biblisches Theater. Neben der Schule ist sie Mitglied der «Bienli», später der Pfadfinderinnen und wird rasch zur Gruppenführerin befördert. Sie gründet und managt als Primarschülerin im Dorf einen Mickey Mouse-Club, als Jugendliche gestaltet sie die Junge Kirche mit. Nach der Diplommittelschule lässt sie sich – wie ihre Mutter – zur Sozialarbeiterin ausbilden, erreicht das Diplom aber nicht ohne beträchtliche Anstrengung. Sie arbeitet kurz im sozialpädagogischen Heim; nach der Heirat übernimmt sie mit ihrem Ehepartner Verantwortung in der kirchlichen Jugendarbeit, co-leitet eine Jugendherberge, erzieht ihre Kinder und schliesslich übernimmt sie mit ihrem Partner ein Hotel im Tessin. Parallel dazu bewährt sie sich in kirchlichen Leitungspositionen. Nach dem Tod ihres Ehemannes führt sie das Hotel allein – und fragt sich ständig, warum alles gelingt, warum sie den Aufgaben gewachsen ist. Der Fülle eigener Lernprozesse über Jahrzehnte hinweg schreibt sie kaum Bedeutung zu, vielmehr sieht sie Gottes Hand im Spiel.

Gut auftreten und sich etwas zutrauen

  • Sie pflegt nach eigener Aussage eine spezielle Form a-didaktischen Lernens: Männerbeziehungen erlebt sie als Entwicklungsschübe und als lernlustige Person wechselt sie die Partner immer mal wieder. Ein Lehrabschluss als Apothekenhelferin ist Ausgangspunkt; sich und andere schönmachen ist ihre Berufung und Begabung und das führt sie zunächst in eine feste Anstellung mit Vernetzung zur gesellschaftlichen und politischen Prominenz. Doch ihr unternehmerischer Geist wird unterstützt und führt sie in die berufliche Selbständigkeit. Zusammen mit Kollegen riskiert sie nebenbei einen Ausflug ins Kulturbusiness, gerät aber in eine Sackgasse. Sie glänzt als Gründerin einer Gruppe von Geschäften in der Schönheitsbranche, wird mit einem renommierten Preis ausgezeichnet, muss nach einer schweren Krise – schlecht beraten – aber kleinere Brötchen backen. Parallel dazu engagiert sie sich mit ihrem Schönheits-Knowhow in der Entwicklungshilfe, lanciert in Afrika ein gut funktionierendes Projekt und versteht es, dafür auch die nötigen Gelder aufzutreiben. Kosmetik und Dekoration beschäftigen die Geschäftsfrau bis heute; überdies betriebt sie eine geschmackvolle kleine Beiz.

Anschlussfragen:

Wie genau ist der Zusammenhang zwischen einer intensiven, vielfältigen Lernbiografie und langem, engagiertem Tätigkeitsein?

Hat die Bildungspolitik die a-didaktischen Lernprozesse überhaupt im Visier? Gibt es Nachholbildung für bewährte Praktiker*innen, wenn neue Ausbildungen etabliert werden? Ein System von «Validation des Acquis», welches nicht schulisch erworbene Kompetenz überprüft und mit offizieller Zertifikation bestätigt?

Zusätzlich stellt sich die Frage, ob und wie im Arbeitsmarkt die Ergebnisse a-didaktischer Lernprozesse und ihre Ergebnisse bei Arbeitskräften erfasst und bei Stellenbesetzungen validiert werden.

Januar 2023/ ema

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