Ergebnisse Selbstreflexion der Forschenden

Persönlicher Standort, Interessen und Verhalten forschender Personen spielen in sozialwissenschaftlichen Projekten eine Rolle. Anderseits wirkt die Teilnahme an einem Forschungsprojekt auf die Forschenden zurück. Sich über diesen doppelten Wirkungszusammenhang Rechenschaft abzulegen und in der Gruppe in mehreren Etappen über Voraussetzungen, Motivation, Erwartungen und Einflüsse des Forschens auf eigene Einschätzungen nachzudenken und auszutauschen, gehörte zum Projektkonzept.

Fragen:

  • Wo standen die Bürgerwissenschafter:innen im Projekt «neuesalter» und was bewegte sie?
  • Wie haben sich die Positionen der Bürgerwissenschafter:innen im Lauf der Projektdauer verändert?
  • Welche Arten von «Gewinn» erlebten die Forschenden? Wie reden sie in der Rückschau über ihren Gewinn?
  • Welche Entwicklungen wurden bei den auskunftgebenden Personen und den Beziehungen zwischen ihnen und den Forschenden beobachtet?
  • Mit welchen Methoden der Selbstreflexion kamen die hier referierten Resultate zustande?

Zu Frage 1: Persönliche Ausgangssituation; explizite Motivation

  • Im Zentrum stand das Interesse an spannenden Biografien, am Kennenlernen und Verstehen anderer Menschen – und die Erwartung, den eigenen Weg im Fremden zu spiegeln
  • Fast gleich bedeutsam war der Weiterbildungsaspekt, also die Chance, Neues zu lernen, den Denkhorizont zu erweitern, sich selbst und die eigene Leistungsfähigkeit auf die Probe zu stellen
  • Dazu kamen Erwartungen auf der Beziehungsebene: Mit andern Menschen zusammen auf ein Ziel hin kooperieren, etwas auf die Beine stellen, neue soziale Netzwerke erschliessen waren Beweggründe
  • Für viele ging – und geht – es auch um Politik im weiteren Sinn: Man will etwas bewirken, den demografischen Wandel mitgestalten

Zu Frage 2: Eigene Entwicklung und Veränderung im Lauf der Projektdauer

Interesse und Freude am Einblick in andere Lebenswege werden vertieft; man wünscht sich noch mehr entsprechende Erfahrungen. Viele denken in neuer Weise über die eigene Lebensgestaltung nach, nehmen Anregungen auf (zum Beispiel die Herstellung einer persönlichen Memory-Box mit Gegenständen und Dokumenten, die sie ihren Nachkommen unbedingt in die Hände legen möchten), doch zu grossen Erleuchtungen oder Umorientierungen kommt es nicht.

Austausch, enge Kooperation und Zugehörigkeit zu dieser spannenden Gruppe von Bürgerwissenschafter:innen werden generell als grosse Bereicherung erlebt.

Humanwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn, das Studium von Texten und Theorien, Analyse und Einordnung von Beobachtungen erfahren von allen hohe Wertschätzung. Die vermittelte und wachsende Kompetenz im Herstellen von Filmen, Tondokumenten und Schnittsoftware dagegen wird unterschiedlich wahrgenommen und geschätzt: Während die einen stolz sind auf ihre rasch wachsende Effizienz, üben sich andere in Zurückhaltung und stellen fest, dass sie noch einen Schubs brauchen, um multimediale Aktivitäten an die Hand zu nehmen. Eine dritte Subgruppe liefert gute Protokolle und konzipiert Medienproduktionsprogramme, verzichtet aber auf die Vertiefung in Schnittprogramme.

    Zu Frage 3: «Gewinn» oder «Profit» aufgrund der Teilnahme am Projekt

    • Eigene Lebenssituation bewusster und kompetenter gestalten; differenzierte Auseinandersetzung mit Aspekten aktiven Lebens bis ins hohe Alter
    • Neue vertiefte und tragfähige Beziehungen zu interessanten Menschen in späteren Jahren knüpfen können
    • Persönlichen Lebensweg vor allem im Kontext der Zeitgeschichte besser verstehen
    • Herausforderungen meistern, Vertrauen zu sich selbst stärken, etwa beim Meistern anspruchsvoller Probleme am PC; Stereotype von «lernbehinderten Älteren» ausser Kraft setzen
    • Sich an Wissenschaft ankoppeln, methodengeleitet vorgehen, sich mit Theorien auseinandersetzen, zum Beispiel über die Funktionsweise von Erinnerung und ihrer Aktivierung
    • Erweiterung der eigenen beruflichen Möglichkeiten – zum Beispiel als Coach, Laufbahnberaterin, Hebamme oder Kursleiterin
    • Entwicklung respektabler Kompetenz zur Gestaltung von Filmen oder komplexer medialer Produkte dank gezielter Schulung
    • Gewisser Stolz, in einem sich laufend weiter entwickelnden Projekt mit beträchtlicher Ungewissheit (nur die Zielsetzung blieb stabil) und viel Learning by Doing bei der Stange geblieben zu sein

    Zu Frage 4: Entwicklungen auskunftgebender Personen

    Das Sample wurde von der Projektleitung nach den Regeln grösstmöglicher Unterschiedlichkeit zusammengestellt; die Forschenden wählten aus dem grossen Pool ihre Informationspersonen selbst aus. Sie (nicht die Projektleitung) knüpften den Kontakt und pflegten die Beziehung, vereinbarten das Vorgehen und sicherten den Datenschutz.

    Generell wird im Lauf der Projektentwicklung ein steigendes Engagement der Informationspersonen beobachtet. Die Beziehungen zwischen Forschenden und Auskunftgebenden entwickelten sich vielfältig, unterschiedlich intensiv und mit unterschiedlicher Wirkung. Grundtendenz war die Suche nach Austausch auf Augenhöhe, weg aus einer Lieferantenbeziehung. Die Intimität des Austausches motivierte manche zum Wechsel aufs «Du», und es ergaben sich Freundschaften, die in Einzelfällen auch nach Abschluss der Enquête lebendig bleiben.

    Viele Informationspersonen bedankten sich für die Chance, über ihren Weg nachzudenken und darüber zu reden; das Gespräch aktivierte vergessene Erinnerungen oder stellte Einschätzungen in einen neuen Rahmen. Selten blieb es bei einem einzigen Gespräch; oft meldeten sich die Auskunftspersonen hinterher erneut mit ergänzenden Erinnerungen. Sie schenkten viel mehr Vertrauen, als die Bürgerwissenschafter:innen erwarteten.

    Einzelne zeigten sich bei der Dokumentation ihres Lebensweges im Internet sehr aktiv, und sie nutzen die Publikation auch unabhängig für eigene Zwecke. Wieder andere blieben vorsichtig und hielten sich nach Möglichkeit bedeckt. Eine kleine Minderheit behandelte die Forschenden distanziert; wie professionelle Jounalist:innen.

    Von Anfang an war klar, dass sich nicht alle persönlich mit ihrem biografischen Weg im Internet präsentieren wollten, auch wenn das Schwergewicht des Publizierten auf Arbeit, Ausserhäuslichem und der zweiten Lebenshälfte liegt. Die erwachsenen Kinder waren zuweilen wenig begeistert über die Mitteilungsbereitschaft ihrer Vorfahren.

    Das Projekt suchte nach vielfältigen Möglichkeiten und Bedingungen für lange, engagierte Lebenswege; diese Ausrichtung auf Muster funktionierte gut und ziemlich unabhängig von unterschiedlicher Beziehungsqualität, von konzentrierten oder sehr ausführlichen Gesprächen, mit oder ohne Webauftritt.

    Zu Frage 5: Methoden der Selbstreflexion

    • Zeitplan
      Nach vielfältigen Vorarbeiten im ersten Halbjahr 2020 startete das Projekt mit zwei Workshops für alle Forschenden im Juli und August 2020. Dabei wurden theoretische Grundlagen, praktische Arbeitsinstrumente und Techniken der Gesprächsführung, d. h. des narrativen Interviews, vermittelt, erarbeitet und geübt. Im September 2020 begann die Interviewarbeit; im Juni 2023 waren – nach vielen Verzögerungen in zwei Covid19-Jahren – die Datensammlung und die Produktion der multimedialen Elemente zur Darstellung der Lebenswege abgeschlossen. Die Auswertungsarbeiten und damit die Erweiterung der Website laufen weiter. Dreimal trafen sich die Forschenden zu mehrstündigen Reflexionsrunden, nämlich im März 2021, im September 2021 und im April 2022.
    • Methode
      Auf wenige offene Fragen der Projektleitung (z.B. Was hat das Projekt mit meiner persönlichen Lebenssituation zu tun? Wie hat sich meine Engagement im Lauf der Forschungstätigkeit verändert? Was hätte ich ohne die Teilnahme am Projekt «neuesalter» nicht erfahren?) formulierten die einzelnen Beteiligten zunächst schriftlich individuelle Antworten. Diese Stellungnahmen wurden anschliessend in vierköpfigen Gruppen kritisch durchleuchtet und konsolidiert. In einem dritten Schritt schälten die Bürgerwissenschafter:innen im Rahmen einer Plenarsitzung die inhaltlich wichtigsten Punkte heraus und gewichteten deren Bedeutung.

    Reflexionsthemen eher forschungspraktischer Art:

    • Projektentwicklung, Qualitätsansprüche, Ergebnispräsentation und Web-Auftritt waren laufend traktandierte wie auch informelle Diskussionsthemen, ganz wie es dem partizipativen Vorgehen von Citizen Science entspricht.
    • Wichtig für die Qualitätssicherung war das Nachdenken über die eigene Rolle im Interview und die Rolle gegenüber den Auskunftgebenden: Wieviel Nähe ist produktiv und erlaubt? Wieviel Distanz nötig? Wie stark soll die Gesprächsführung eingreifen; wie locker und zurückgelehnt darf man die Erzählung laufen lassen? Wie sind zögernde Erzählende zu ermutigen? Wie tönt elegantes Nachfragen?
    • Sehr konstruktiv wurde über das Setting narrativer Interviews diskutiert: Während einige Forschende zu Beginn entschieden den Alleingang wählten, zeichneten sich im Lauf der Projektentwicklung immer mehr die Vorteile der Arbeit im Tandem ab. Die Arbeitsteilung zwischen Gesprächsführung und Protokollierung brachte mehr Information zutage und die Möglichkeit, Eindrücke und Perspektiven auszutauschen; sie steigerte in der Auswertung und der Identifizierung von Handlungsmustern ganz klar die Qualität.
    • Vereinzelten Bürgerwissenschafter:innen war es wichtig, eigene Freunde und Bekannte zu interviewen; das Experiment hat sich gelohnt. Doch das Setting zwischen Unbekannten war klarer definiert, ohne Vorgeschichte und Tabus und mit weniger komplexen Erwartungen belastet, deshalb einfacher zu handhaben.
    • Unter den Interviewten figurieren auch Prominente aus Kunst und Politik. Aufgrund ihrer Bekanntheit erlaubten sie nur begrenzt neue Entdeckungen; vor allem fiel auf, dass die erzählten Erinnerungen meist geschliffener, von Widersprüchen und Brüchen «bereinigter» daherkamen. Vermutlich, weil sie schon mehrmals formuliert worden sind – was aufgrund von Erkenntnissen der Erinnerungspsychologie zu erwarten war.
    • Die Planungsunsicherheit wegen Kontaktsperren während zweier Jahre Covid19 war für alle Beteiligten belastend und verzögerte die Durchführung des Projekts mit allen Verträgen und Vereinbarungen um rund ein Jahr.

    August 2023/ ema

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