Nähe zu Natur und Pflanzen

Frage:

Wie lässt sich die auffällige Zuwendung der Befragten zu Natur, Vegetation und grünen Landschaften einordnen?

Natur wird vom Erlebnis- zum Handlungsraum:

Natur, speziell Vegetation, sind für Frauen und Männer in allen Lebensphasen Kontexte, die zu Auseinandersetzung einladen und zwar – im Sinn von Kurt Lewins Feldtheorie – als Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Handlungsfelder. Sie sind dies in vielfältiger Weise: förderlich, beglückend, sportlich, einschränkend oder gar bedrohlich.

Im Projekt «neues Alter» stand der Austausch der Informationspersonen mit ihrem natürlichen Kontext zu Beginn der Interviewphase nicht im Fokus der Aufmerksamkeit, doch das änderte sich rasch aufgrund vielfältigster Aussagen und Engagements der Befragten. Gängige Vorstellungen legen nahe, dass Personen über 60 weniger produktiv arbeiten, sich dafür häufiger im Freien bewegen und sich Zeit für Naturerlebnisse nehmen. Diese Annahmen werden im Rahmen des Projektes deutlich relativiert. Die interviewten Siebzigjährigen nehmen Natur und Vegetation in je eigener Weise – und neben andern bedeutsamen Aktivitätsbereichen – vor allem als wichtige Handlungsfelder, weniger als Erlebnisraum wahr.

Die Umweltwissenschafterinnen Mollie Chapman und Daniela Heinen (Universität Zürich) veröffentlichten 2022 eine qualitative Studie, die zwischen instrumentellem und relationalem Umgang mit Natur unterscheidet. Was ist gemeint? Bäume spenden Schatten, gejagte Gämsen landen als Fleisch auf dem Teller, der Kornacker liefert Brotmehl; Pflanzen und Tiere nützen den Menschen (instrumentell) und werden geschätzt. Wer seine Blumenbeete liebt und eher auf Ferien verzichtet als sie im Stich zu lassen oder alljährlich Winterschlafgruben für Igel aushebt und die Tiere beobachtend begleitet, steht in Beziehung (relational) zu «seinen» Pflanzen und Tieren; sie bedeuten ihm oder ihr viel. Daraus entwickelt sich ein Wechselspiel, ein Geben und Nehmen, das keineswegs nur für Bauern eine Ressource darstellt.

Unterstützt wird die Bedeutung von Biophilie, bzw. grünen Umgebungen für lange, engagierte Lebenswege auch von ganz anderer Seite, nämlich durch die Schweizer Arbeitskräfte-Erhebung (SAKE) des Bundesamtes für Statistik von 2018. Sie identifiziert mit weitem Abstand als grösste Gruppe Erwerbstätiger im Rentenalter die in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten.

Die beforschten Personen bestätigen auch, dass grüne Vegetation eine vitale Ressource darstellen kann, die sie unterschiedlich, ihrer Lerngeschichte entsprechend, zu nutzen wissen. Herausgepickt sei in diesem Zusammenhang die empirische Forschung von Roger S. Ulrich (Chalmers University of Technology), der mit verblüffenden Studien zum positiven Einfluss natürlicher Umgebungen und von Grünwuchs auf Heilungsprozesse die Spitalarchitektur nachhaltig beeinflusst hat. Im Übrigen belegen zahlreiche Untersuchungen, dass der Aufenthalt im Grünen in unseren Breitengraden schon nach wenigen Minuten emotional, physiologisch und ästhetisch wohltuend wirken kann. Vegetation mindert individuell unterschiedlich, je nach erworbener Erlebnisfähigkeit, den Stress (Angst, Aggression), reduziert Haut- und Muskelspannung, senkt den Blutdruck, weckt positive Gefühle und fördert wahrscheinlich das kognitive Funktionieren - nicht alle Studienresultate sind eindeutig.

Rahmenbedingungen der erforschten Lebenswege:

  • Heute Siebzigjährige wuchsen mit beträchtlichen grünen Spiel- und Freiräumen auf, nicht nur auf dem Land, auch in den städtischen Quartieren. Der motorisierte Verkehr war gering, Strassennetz und Asphaltierung noch wenig entwickelt; nach dem Krieg wurde noch sehr viel Grünfläche für den Anbau von Nahrungsmitteln genutzt. 
  • Freizeit und Ferien verbrachten Familien im geografischen Nahbereich; Reisen über die Landesgrenze hinaus waren bis in die sechziger Jahre hinein seltener Luxus. Den Sonntag nutzten die Familien fürs Spazieren, Wandern, Baden, Schlitteln, Picknicken im Freien; Naturerlebnisse gehören zu sehr vielen Lerngeschichten.

Steckbriefe – konkrete Fallbeispiele:

Pionierin im Finanzbereich mit grünem Daumen

  • Die Männer ihrer Herkunftsfamilie waren Ingenieure, sie wählte ein Wirtschaftsstudium und erwarb den Doktortitel. Zunächst schreibt sie für einen Verband über Themen von Wirtschaft und Politik, später arbeitet sie in einer Bank an Grundsatzfragen, wechselt dann aber ins Kerngeschäft, die Betreuung von Kund:innen. Eine mit ihrem Profil landet rasch auf der Direktionsetage; sie wechselt auf dieser Ebene auch den Arbeitgeber. Doch etliche Jahre vor einer möglichen Pensionierung gründet sie ein eigenes Anlageberatungsunternehmen und prägt es mit ihrer persönlichen Philosophie. Bis heute.

    Sie ist Mutter einer Tochter und begeisterte, gern verfügbare Grossmutter. Doch ein ganz besonderes Blatt in ihrem späten Aufgabenportfolio betrifft ihren Dachgarten. Wie verrückt habe sie Bücher über Gärten gelesen und ihren eigenen ganz persönlich gestaltet. Er beschäftigt sie an jedem nicht verregneten und frostigen Tag. Seit 20 Jahren ist sie – auf Lebenszeit - Mitglied bei den Freund:innen des Botanischen Gartens.

Pflanzenzucht: Vom Hobby zum Beruf

  • Vielleicht beeinflusst durch den frühen Tod ihrer beiden Eltern, erwirbt die aufgeweckte Schülerin ein Handelsdiplom, das den zügigen Eintritt in die Arbeitswelt fördert und bewährt sich als Buchhalterin und in andern betrieblichen Kaderfunktionen innerhalb mittelgrosser Unternehmen der Ostschweiz. Nach der Heirat mit einem Mechaniker widmet sie sich eine Zeitlang vorwiegend den drei Kindern, steigt aber zügig wieder ins Erwerbsleben ein. Als der Ehemann - weil der Arbeitgeber in eine Sackgasse gerät - seinen Job verliert, und die Stellensuche für den gestandenen Handwerker erfolglos bleibt, beschliesst das Ehepaar, sein langjähriges Hobby zum Zentrum neuer gemeinsamer Geschäftstätigkeit zu machen. Die kleine, feine Kakteenzucht wird Basis einer Kakteengärtnerei grösseren Stils, die im Lauf erfolgreicher Jahre nochmals den Standort wechselt. Die selbst entwickelte spezielle Kakteenerde wird zum Verkaufserfolg. Der Betrieb wird veräussert, als die Eigentümer deutlich über 70 Jahre alt sind. 

Mutters Garten als zugefallenes Erbe

  • In eine global tätige Unternehmerfamilie im Mittelland hineingeboren, kam sie mit einem Handelsdiplom in der Tasche früh in der Welt herum und arbeitete mit Erfolg in verschiedenen Firmen. Schliesslich findet sie ihre Berufung als kreatives Marketingtalent im Familienunternehmen, das Luxuskonsumgüter vor allem für Männer produziert. Sie bewährt sich bestens über viele Jahre hinweg auch in wenig bekannte Flecken der patriarchalen Welt. Eine eigene Familie gründet sie nie, doch im Gemeinwesen rund um den Firmensitz übernimmt sie Verantwortung in etlichen gestaltenden Rollen. Sie lässt sich u.a. zur Sterbebegleiterin ausbilden und übt die Funktion mit Hingabe aus.

    Selbst schon im Pensionsalter, verliert sie ihre Mutter und «erbt» deren gepflegten Garten. Zunächst erwägt sie die Verwandlung in eine Magerwiese, schliesslich nimmt sie das Stück Land als Aufgabe wahr, lässt sich fachmännisch beraten und wird, wie sie sagt, zum Gartenfan. Auf Reisen sammelt sie Samen und gräbt Pflanzen aus; stolz zeigt sie ihre exotische Tomatenzucht mit Gewächsen aus Russland und Kirgistan. Aus Freude am Gestalten, Pflanzen und Wachsen lassen wird Leidenschaft. 

Von industrieller Produktion zur Bio-Landwirtschaft

  • Als Bub musste er im Pflanzblätz mitarbeiten, die Mutter lieferte zum Beispiel Bohnen an die nahe Konservenfabrik. Doch lieber als mit Grünzeug beschäftigt er sich als junger Kaufmann im europaweiten Exportgeschäft von Maschinen und lernt die wichtigsten Sprachen. In seinen vierziger Jahren baut er rund um zukunftsträchtige Technologie ein eigenes Unternehmen auf, das international rasch wächst. Die operative Verantwortung gibt er nicht zu spät in die Hände der nächsten Generation, strategisch bleibt er Weichen stellend.

    Freiwerdende Zeit investiert der überzeugte «Grüne» (der früh schon Nachhaltigkeits-Auszeichnungen für seine Firmenbauten gewann) nun in ein grosses Grundstück neben den Produktionshallen, wo nach strikt biologischen Grundsätzen Gemüse und Salat für die Unternehmenskantine produziert wird; er beschäftigt dafür eine Fachfrau, kennt sich aber selbst auch in jedem Detail aus. Im ökologisch förderlichen Weinbau der Region ist er eine prägende Figur; er bewirtschaftet eigene Rebflächen strikt biologisch und leistet Überzeugungsarbeit für den Umstieg bei Kollegen. Nach einem grossen Schneefall mobilisiert er mitten in der Nacht einen Malermeister mit ausrollbarer Leiter, um auf alten Prachtsbäumen seines Stadtgrundstücks die Last wegzuwischen und Astbruch zu vermeiden.

Mai 2022/ ema

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